Systemisch H wie Homöostase
Systemische Begriffe kurz erklärt

Sofern wir in die Natur eingreifen, haben wir strengstens auf die Wiederherstellung ihres Gleichgewichtes zu achten.
Heraklit
Als Homöostase wird das Bestreben eines offenen, dynamischen Systems verstanden, einen Zustand des Gleichgewichts und der Stabilität zu halten. Die Homöostase ist ein Spezialfall der Selbstregulationsfähigkeit.
In der systemischen Therapie wird Homöostase als ein Mechanismus verstanden, der dazu dient, die bestehenden Verhältnisse innerhalb eines Familiensystems aufrechtzuerhalten, auch wenn diese möglicherweise dysfunktional sind. Die Stabilität ist für das System wichtig, da sie Kontrolle über die verschiedenen Elemente und Beziehungen bietet. In dysfunktionalen Konstellationen bekommen Symptome die Funktion das Gleichgewicht zu erhalten. Durch gezielte therapeutische Impulse sollten Symptome durch funktonales Verhalten ersetzt werden.
Kritik und das Gegenstück zur Homöostase
Einige Systemiker stehen dem Konzept der Homöostase kritisch gegenüber, das es den Fokus auf den Widerstand gegen Veränderung legt und dadurch die Fähigkeit eines Systems zur Anpassung und wenig betont wird.
Das Gegenstück zur Homöostase ist Autopoiesis, das von Maturana und Varela (1991) entwickelt wurde. Es beschreibt die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu organisieren und auf Veränderungen flexibel zu reagieren. Während Homöostase auf Stabilität setzt, fördert Autopoiesis die Anpassung an neue Bedingungen.
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Beispiel
Disclaimer: Alle Beispiele sind frei erfunden und zum Zwecke der Begriffserläuterung konstruiert. Sie bilden weder die Wirklichkeit noch die Komplexität der menschlichen Psyche ab, da sie einseitig einen Begriff in den Fokus nehmen. Schaubilder wurden entweder eigens für die Fälle erstellt oder inhaltlich maßgeblich verfremdet.
Situation
Die Familie Müller besteht aus den Eltern, Anna und Thomas, sowie ihren beiden Kindern, Lena und Max. Seit Jahren gibt es immer wieder Streitigkeiten zwischen den Eltern, bei denen Anna häufig das Verhalten von Thomas kritisiert, während Thomas sich zurückzieht und Konflikte vermeidet. Das Familiensystem, das grundsätzlich nach einem friedlichen Miteinander strebt, gerät durch den Streit der Eltern ins Ungleichgewicht. In ihrer Dyade (also in der Beziehung zwischen Anna und Thomas) gibt es Ausgleichsbestrebungen – zum Beispiel das Bedürfnis nach Wertschätzung- die das Konfliktverhalten der beiden Aufrechterhalten.
Im Familiensystem führt das Streiten der Eltern jedoch zu einer Störung im Gleichgewicht. Das führt dazu, dass die Kinder Lena und Max unbewusst bestimmte Rollen übernehmen, um den familiären Frieden zu bewahren. Lena vermittelt zwischen den Eltern, versucht, Konflikte zu entschärfen und den Frieden zu wahren, während Max sich zurückzieht und die Konflikte innerlich meistert. Beide Kinder (Systemelemente) übernehmen diese Rollen im Sinne der Homöostase und sorgen so dafür, dass die Familie stabil bleibt, auch wenn diese Dynamik zu Lasten ihrer eigenen Bedürfnisse geht.
Das Verhalten der Kinder sorgt eine Zeitlang für Stabilität jedoch zu einem Preis: Die Familie kommt zu mir, weil Max ein exzessives Spielverhalten entwickelt hat, bei dem er sich intensiv mit gewaltverherrlichenden Spielen beschäftigt. Lena hat zunehmend das Interesse an ihren Freundinnen verloren und verbringt ihre Zeit ausschließlich zu Hause. Die Eltern haben sich in der Sorge um Max‘ Spielverhalten verbündet und streiten seltener. Lenas ewiges zuhause Herumlungern geht ihnen beiden auf die Nerven -auch da sind sie sich einig. Sie haben entschieden, dass sich etwas ändern muss und suchen sich Unterstützung.
Systemische Interventionen
Das System irritieren/stören
Nachdem die Zusammenarbeit mit der Familie schon eine ganze Weile läuft und ein gutes Vertrauensverhältnis etabliert wurde, verständige ich mich mit meiner Co-Therapeutin darauf in der nächsten Sitzung den Eltern den Vorschlag zu machen, ihr typisches Streitverhalten einmal vorzuführen. Wir verschreiben ihnen also eines der im System auftauchenden Symtome (Streit der Eltern). Die Idee dahinter ist, das System mit der paradoxen Intervention Symtomverschreibung zu stören und dadurch zu einer neue Sichtweise auf die Probleme einzuladen.
Diese Intervention ist nur möglich, weil wir schon eine Weile mit der Familie arbeiten. Die Familie vertraut uns, wir kennen das System und haben die Hypothese entwickelt, dass die von den Eltern genannten Symptome (Spielverhalten von Max und Rückzugsverhalten von Lena) zwar die offensichtlichen aber nicht die einzigen sind. Wir gehen das Risiko ein, dass durch unsere Intervention Wiederstand im System entsteht. Das Streitverhalten der Eltern wird vom System verborgen / geschützt, es soll nicht ans Licht kommen. Stattdessen werden die Kinder zu Symptomträgern.
Wir trauen den Eltern und der Familie zu, dass sie bereit für eine Veränderung sind.
In der Sitzung laden wir Anna und Thomas dazu ein uns zu zeigen, wie das so typischerweise abläuft, wenn sie sich streiten. Wir fragen, sie ob sie sich das vorstellen können. Thomas und Anna sind zwar etwas irritiert, willigen aber ein. Wir erläutern Ihnen, dass es hierbei um eine Intervention geht, die wie ein Rollenspiel funktioniert. Und damit etwas Spaß im Spiel entsteht, sollen Thomas und Anna ruhig übertreiben. Für Spannung sorgt, dass sowohl Anna als auch Thomas zu jedem Zeitpunkt entscheiden können ihre typische Rolle zu verlassen und einfach mal in die Rolle des anderen zu schlüpfen: Also entweder soll Anna sich wie sonst Thomas einfach zurückziehen oder Thomas soll, wie Anna sonst, plötzlich auf Angriff und Kritik setzen
Wenn Homöostase an Grenzen stößt
Die durch die Systemverschreibung angeregte Inszenierung führt dazu, dass die Eltern irgendwann lautstark anfangen zu lachen. Durch die Übertreibung und den Rollentausch fällt ihnen plötzlich auf, dass ihr eigenes Verhalten ziemlich absurd ist und sie sind in der Lage das mit Humor festzustellen.
Die Kinder schauen zunächst etwas ängstlich, sind vollkommen verdutzt und dann macht sich merklich Erleichterung breit. Der sonst so stille und zurückgezogene Max hat plötzlich den Mut seinen Eltern zu zeigen wie wütend ihn das ewige Gestreite gemacht hat. Er macht seinen Emotionen lautstark Luft und fängt dann an zu weinen. Die Familie wechselt in einen neuen emotionalen Zustand. Betroffen von Max‘ Gefühlsausbruch wenden sich die Eltern dem Sohn zu und trösten ihn. Sie nehmen Max in den Arm und holen die ebenfalls betroffen dreinschauende Lena dazu.
Auf diese Weise hat Max nun auf eine ganz neue Art für „Frieden in der Familie“ gesorgt, was wiederum Lena in ihrer Rolle als Friedensstifterin entlastet. Sie ist die erste, die sich aus der Umarmung löst und etwas Abstand zu den anderen nimmt. Dann fragt sie unvermittelt: „kann ich mich heute Nachmittag mit Emma treffen?“. Die Eltern schauen sich an und nicken nur. Lena hatte ihr Bedürfnis nach eigenen sozialen Kontakten zurückgestellt, um als Streitschlichterin für Ihre Eltern da zu sein. Außerdem hat sie keine Freundinnen zu sich nach Hause eingeladen, weil sie sich für die ewigen Streitereien ihrer Eltern geschämt hat.
Durch die Symoptomverschreibung ist das familiäre System plötzlich mit einem Unbekannten Zustand konfrontiert. Alle Systemelemente haben keine Standardantwort auf den Zustand und sind gezwungen sich neu zu erfinden. Aus diesem Grund ist es dem System nicht so einfach möglich das ursprüngliche Gleichgewicht wieder herzustellen, sodass ein autopoetischer Prozess greifen muss: das System muss sich -unter Berücksichtigung seiner Grenzen- neu erfinden.
Was nimmt die Familie Müller mit?
Auch wenn Familie Müller den Begriff der Homöostase nicht verwendet, konnten sie erleben, wie dieser Mechanismus dazu geführt hat, dass das familiäre Gleichgewicht u.a. durch die Symptomatik der Kinder hergestellt wurde. Das Bedürfniss der Kinder nach einem friedlichen Familienleben hat sie symptomatische Verhaltensweisen entwickeln lassen, die dafür gesorgt haben, dass die Eltern sich in ihrer Sorge und ihrer Genervtheit verbunden und weniger gestritten haben. Die Verhaltensweisen der Kinder waren wiederum Lösungsversuche, die auf Kosten ihrer eigenen Bedürfnisse erfolgten. Durch die Irritation war das System aufgefordert einen neuen Weg zu finden das Gleichgewicht wieder herzustellen. Diese Erfahrung war für alle Beteiligten sehr anstrengend und gleichzeitig lehrreich. Im Weiteren Verlauf der Zusammenarbeit wird es wichtig sein, immer wieder an dieser Erfahrung anzuknüpfen, da nicht zu erwarten ist, dass sich im Alltag von nun an nur noch die neuen Verhaltensweisen der Familie zeigen werden.
Wir möchten an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass solche Prozesse oft über viele Sitzungen hinweg laufen und die Ergebnisse oft nicht so eindeutig sind. Es handelt sich, wie bereits eingangs gesagt, um ein konstruiertes Beispiel zum Zwecke der Begriffserläuterung.
Ausblick
Die Eltern bekommen die Hausaufgabe den/die Partner:in immer mal wieder mit dem jeweils gegenteiligen Verhalten zu konfrontieren ohne es vorher anzukündigen. Sie sollen die Zeit stoppen, bis der/die Andere es merkt.
Max soll einen Boxsack bekommen. Wenn er wütend auf seine Eltern wird, darf er sich immernoch zurückziehen aber statt seine Wut beim zocken rauszulassen, schlägt er in den Sack: das bekommen seine Eltern mit und können es als rote Karte interpretieren.
Lena will sich mit einer Freundin beim Fußball anmelden. So hat sie feste Termine an denen sie mit Freundinnen zusammenkommt und ihre Eltern sich selbst überlässt.
Vielleicht erkennen Sie sich trotz der Überzeichnung des Beispiels in der ein oder anderen Situation wieder – in der Dynamik, den unbewussten Rollen oder einfach dem Wunsch nach Veränderung. Wenn Ihre Kinder durch störende Verhaltensweisen auffallen und sie neugierig sind was dahinter steckt und wie die Kinder möglicherweise damit versuchen das Familiensystem zu stabilisieren, lade ich Sie ein, mit mir gemeinsam diese spannende Reise zu beginnen. Lassen Sie uns -frei von Schuldzuweisung- zusammen herausfinden, welche Veränderungen für Sie möglich sind.