Systemisch B wie Bedürfnisse
Systemische Begriffe kurz erklärt

Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht.
Marshal B. Rosenberg
Bedürfnisse sind grundlegende Motive, die unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Nach Klaus Grawe lassen sich menschliche Grundbedürfnisse in vier zentrale Bereiche gliedern:
- Bindung und Nähe: Das Streben nach emotionaler Verbundenheit, Unterstützung und Zugehörigkeit.
- Sicherheit und Kontrolle: Der Wunsch nach Vorhersehbarkeit und einem Gefühl der Selbstwirksamkeit.
- Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz: Das Bedürfnis, sich selbst als wertvoll zu erleben und Anerkennung zu erfahren.
- Lustgewinn und Unlustvermeidung: Das Verlangen nach angenehmen Erfahrungen und die Vermeidung von Schmerz und Belastungen.
Im systemischen Kontext werden Bedürfnisse als zentrale Orientierungspunkte betrachtet, um Konflikte zu verstehen, Beziehungen zu klären und persönliche Entwicklung zu fördern. In meiner Praxis spielt die Arbeit mit Bedürfnissen eine zentrale Rolle, da sie häufig als unbewusste Treiber unseres Handelns wirken.
Wenn Bedürfnisse unerfüllt bleiben oder wir in der Kindheit negative Grundannahmen bezüglich der Befriedigung unserer wichtigen Grundbedürfnisse erlernt haben, kann dies zu wiederkehrenden maladaptiven (ungünstigen) Emotionen und Verhaltensweisen führen, die zu Konflikten und zwischenmenschlichen Spannungen beitragen. In der Folge erleben wir immer wieder ähnliche Frustrationsmomente wie in der Kindheit, wodurch sich das Leid und möglicherweise auch die Konflikte verstärken.
Mein Ansatz ist es, die Bedürfnisse hinter Ihren Emotionen gemeinsam mit Ihnen aufzudecken und Möglichkeiten zu identifizieren, sich diese Bedürfnisse auf eine gesunde, konstruktive Weise zu erfüllen. Dabei gehe ich davon aus, dass die Antwort bereits in Ihnen liegt und nur kontextspezifisch nicht abgerufen werden kann
Lassen Sie uns Ihren individuellen Prozess starten.
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Beispiel
Disclaimer: Alle Beispiele sind frei erfunden und zum Zwecke der Begriffserläuterung konstruiert. Sie bilden weder die Wirklichkeit noch die Komplexität der menschlichen Psyche ab, da sie einseitig einen Begriff in den Fokus nehmen. Schaubilder wurden entweder eigens für die Fälle erstellt oder inhaltlich maßgeblich verfremdet.
Situation
Volker, 31 Jahre, schildert mir in einer Sitzung, dass er sich in letzter Zeit häufiger leer und traurig fühlt. Er merkt, dass er sich immer mehr aus seinem sozialen Umfeld zurückzieht, und beschreibt einen Verlust von Energie und Freude. „Ich treffe meine Freunde kaum noch, aber wenn ich daran denke, Kontakt aufzunehmen, fühlt es sich irgendwie anstrengend an. Das war früher anders“, sagt er.
Interventionen in der Arbeit mit Bedürfnissen
Bedürfnisse erkennen
Im Gespräch suchen wir aktiv nach Unterschieden: Wann war es anders? Was war damals anders?
Ich lade Volker ein, genauer hinzuspüren: Was vermisst er am meisten? Was würde ihm guttun? Nach einigem Nachdenken sagt er: „Früher hat sich regelmäßig einer meiner Freunde gemeldet, und wir sind mal zu zweit, mal mit weiteren Freunden in eine Bar gegangen oder haben uns bei einem der Freunde zu Hause getroffen. Ich habe auch manchmal zu mir eingeladen, aber das mache ich jetzt nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, dass eh keiner Zeit hat. Ein großer Unterschied ist, dass zwei meiner Freunde früher noch keine Kinder hatten. Und ein dritter Freund hat einen neuen Job angefangen und ist viel unterwegs. Ich bin der Einzige, bei dem noch alles unverändert ist. Irgendwie fühle ich mich ausgeschlossen und will auch niemandem auf die Nerven gehen.“
Dieses Gefühl weist einerseits auf ein Bedürfnis nach Bindung und Nähe hin und lässt mich andererseits vermuten, dass Volker vielleicht ein paar negative Grundannahmen zum Thema Bindung mit sich trägt.
Emotionen und dahinterliegende Bedürfnisse verstehen
Wir schauen gemeinsam genauer hin:
Volker wünscht sich Zugehörigkeit und Verbindungen mit seinen Freunden. Gleichzeitig hat er die Sorge, dass sein Bedürfnis nach Nähe nicht erwidert werden könnte, und hat Angst, zu nerven und in der Folge abgelehnt zu werden. Aus diesem Grund vermeidet er es, Kontakt zu seinen Freunden aufzunehmen.
Ich bitte Volker, das Gefühl, das er gerade fühlt, einmal ganz bewusst wahrzunehmen und es so gut wie möglich zu beschreiben. Volker beschreibt ein Gefühl von Verlassenheit, Vermissen, Eifersucht, Enttäuschung und Traurigkeit. Das sind typische Gefühle, wenn unser Bedürfnis nach Bindung unerfüllt bleibt oder bedroht wird.
Ich frage ihn, ob er sagen kann, wie alt er sich gerade fühlt. Volkers Blick wandert durch den Raum, er wirkt etwas distanziert und antwortet dann: „Na so ca. 5 Jahre alt?“
Ich bitte ihn, mich anzusehen, und er kommt ein bisschen „wie aus einer anderen Zeit“. Ich lade ihn ein, wieder als erwachsener Volker hier bei mir zu sein. Er nickt und richtet sich auf. Seine Stimme wird wieder etwas fester.
Ich lade Volker dazu ein, mit etwas Abstand auf diese fünfjährige Version von sich zu schauen und mir zu erzählen, was dazu in ihm hochkommt. Volker berichtet, dass er mit 5 Jahren eine kleine Schwester bekommen hat. Seine Mutter hatte alle Hände mit dem Säugling voll zu tun, und sein Vater war in dieser Zeit viel auf Dienstreise.
Er erinnert sich, dass er seine kleine Schwester eigentlich süß fand und sie auch liebhaben wollte, aber manchmal wünschte er sich, sie würde einfach wieder zurück ins Krankenhaus gebracht werden. Er wusste auch überhaupt nicht, wie er mit ihr umgehen sollte, und wenn er sie zu fest in den Arm nahm, schimpfte ihn seine Mutter.
Bis seine Schwester auf die Welt kam, war er der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und von einem Tag auf den anderen hatten seine Eltern keine Zeit mehr für ihn. Einmal hat er die Wand angemalt, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte – da war dann richtig was los.
Während des Erzählens driftet Volker wieder etwas ab, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Ich gebe ihm etwas Zeit. Irgendwann kommt er von sich aus mit der Aufmerksamkeit wieder mehr in die Gegenwart und meint: „Schon verrückt – genau so fühlt es sich heute mit meinen Freunden an.“
Ich erkläre ihm, dass er durch die Erfahrung in der Kindheit möglicherweise die Grundannahme verinnerlicht hat, dass er in bestimmten Situationen für andere „zu viel“ ist und dass es „Ärger gibt“, wenn er sein Bedürfnis nach Bindung und Nähe versucht einzufordern.
Wichtig ist, dass der fünrjährige Volker andere Kompetenzen hatte als der Erwachsene. Als Fünfjähriger konnte Volker sein Bedürfnis nach Bindung nicht so ausdrücken, dass seine Eltern angemessen darauf reagiert haben. Damals wäre es die Aufgabe der Eltern gewesen, sich in Volker hineinzuversetzen und ihm Bindungsangebote zu machen. Sie hätten sein Verhalten gegenüber der kleinen Schwester und die Aktion mit der bemalten Wand als Bedürfnisinformation für Aufmerksamkeit und Bindung verstehen und ihm Zeitfenster zur Verfügung stellen können, die nur ihm gehören.
Heute ist Volker erwachsen, und es liegt in seinem Verantwortungs- und Kompetenzbereich, seinen Freunden verständlich zu machen, dass er die gemeinsamen Treffen vermisst und gerne mal wieder Zeit mit ihnen verbringen würde.
Ressourcen aktivieren
Im Gespräch erinnern wir uns an frühere Zeiten, in denen Volker sich im Freundeskreis besonders wohl fühlte. Er erzählt von gemeinsamen Unternehmungen, bei denen er mit seinem Humor die Stimmung gehoben hat. „Ich war damals derjenige, der oft die Treffen organisiert hat“, sagt er. Diesen Aspekt in ihm wollen wir wieder stärken.
Praktische Schritte
Volker entscheidet, einen ersten Schritt zu gehen: Er plant, ein Treffen bei sich zu Hause mit seinen zwei engsten Freunden zu organisieren. Er will sich zunächst deren Kommen zusichern lassen und dann anderen Freunden Bescheid geben, dass sie gerne auch kommen können. So sichern wir die Sorge ab, dass am Ende keiner kommen könnte und er alleine zu Hause sitzt.
Außerdem übt er, offen auszudrücken: „Mir bedeutet es viel, wenn wir Zeit miteinander verbringen.“
Was nimmt der Klient mit?
In der nächsten Sitzung berichtet Volker von dem Abend: „Es war ein super Abend, und es sind tatsächlich vier meiner Freunde gekommen. Einer hat sogar einen neuen Freund mitgebracht, weil er schon mit ihm verabredet war – der war richtig nett. Es hat so gutgetan, mal wieder zu lachen und sich verbunden zu fühlen. Ich habe sogar einen neuen Freund gewonnen, der übrigens auch nicht in einer festen Partnerschaft ist. Wir haben uns zum Squashen verabredet.“
Volker erkennt, dass es nicht nur seine Freunde sind, die ihm gutgetan haben, sondern auch die Erkenntnis, dass er es in der Hand hat. Das Gefühl der Handlungsfähigkeit war wunderbar.
Als Fünfjähriger hat er sich ohnmächtig gefühlt und nicht gewusst, wie er sein Bedürfnis befriedigt bekommen kann. Dieses Gefühl wollte er unbedingt vermeiden. Darum hat er im Zusammenspiel mit seinen Freunden den Aufbau des Kontakts und damit die Möglichkeit, sein Bedürfnis zu befriedigen, ebenfalls vermieden.
Dieses Erfolgserlebnis bestärkt ihn, seine Bedürfnisse in Zukunft offener zu kommunizieren und aktiv nach Erfüllung zu suchen.
Ausblick
In einem vertrauensvollen Gespräch mit seinen engsten Freunden möchte Volker zu gegebener Zeit auch einmal zum Ausdruck bringen, dass er manchmal richtig eifersüchtig auf die Partner:innen seiner Freunde ist, er allerdings inzwischen erkannt hat, dass dieses Gefühl zu einem jüngeren Anteil von ihm gehört, der auf seine kleine Schwester eifersüchtig war. So kann er Verantwortung für seine Gefühle übernehmen und die freundschaftliche Beziehung entlasten.
Genauso verhält es sich mit dem Gefühl der Enttäuschung, dass er manchmal seinen Freunden gegenüber empfindet, weil sie sich nicht bei ihm melden. Er weiß nun, dass sein fünfjähriger Anteil von seinen Eltern enttäuscht ist und kann sich um diesen kümmern. So reagiert er seinen Freunden gegenüber nicht mit Rückzug oder Vorwürfen, sondern kann stattdessen frei von Groll und Angst ein nächstes Treffen organisieren, wodurch sein Bedürfnis nach Verbindung befriedigt wird.
Den Gefühlen des Fünfjährigen gegenüber der Schwester und den Eltern, geben wir in einer eigenen Therapiesitzung Raum. So werden sie gewürdigt und die Trauer, darüber, dass es so war wie es war, bekommt ihren Platz: ja, damals war das so. Den Eltern ist es damals nicht gelungen, so für Volker da zu sein, wie er es gebraucht hätte. Das ist traurig. Volker kann das heute aber auch nachvollziehen und sieht, dass seine Eltern in der Situation einfach überfordert waren. Er erkennt das an, genauso wie er anerkennt, dass es für sein jüngeres Selbst nicht okay war.
Das hilft ihm, sich für dafür zu öffnen auch Situationen zu erinnern, in denen er für seine Eltern im Mittelpunkt stand. Dadurch erkennt er, dass er nicht grundsätzlich „zu viel“ war und ist. Lediglich ein fünfjähriger Teil von ihm hatte eine Zeit lang das Gefühl, für seine Mutter „zu viel“ zu sein und sein Bedürfnis nach Bindung nicht ausreichend befriedigt zu bekommen. Dieses Gefühl hatte sich in seinem System verankert. In der Therapie hat er gelernt, wie er als Erwachsener anders mit seinen Gefühlen umgehen und auf sie reagieren kann.
Vielleicht fühlen auch Sie sich manchmal allein oder sind eifersüchtig? Möglicherweise liegt ein Bedürfnis nach Bindung und Nähe dahinter, dass früher oder heute nicht ausreichend befriedigt wird.
Oder Sie haben Ängste und fühlen sich unsicher und überfordert? Vermutlich ist ihr Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit bedroht oder sie haben in der Kindheit die Erfahrung gemacht, dass sie wenig Kontrolle haben und ihre Grenzen überschritten wurden.
Auch fehlende Motivation, Langeweile, Unlust und Traurigkeit (also klassische depressive Symptome) können zu einem gewissen Grad erlernt sein und weisen unter Umständen darauf hin, dass Ihr Bedürfnis nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung unbefriedigt ist. Haben Sie vielleicht den Glaubenssatz „Ich verdiene es nicht, mich gut zu fühlen“ oder „Wie es mir geht, interessiert eh niemanden“ verinnerlicht?
Und wenn Sie häufig Scham, Selbstunsicherheit oder Ärger auf sich selbst verspüren, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass sich Ihr Selbstwert bedroht fühlt.
Alles was so an Symptomen auftaucht, können wir als Bedürfnisinformation verstehen. Lassen Sie uns gemeinsam herausfinden, welches Bedürfnis hinter dem steckt, was sie fühlen und erleben um gemeinsam zu überlegen, was zu tun ist, damit Ihr Bedürfnis erfüllt wird.
Und Liebe Eltern, wenn Sie sich nun in einer der Elternpersonen in dieser Geschichte wiedergefunden haben und Sie sich sorgen, inwiefern auch Sie nicht immer alle Bedürfnisse Ihres Kindes erfüllen, lassen Sie mich Ihnen mit zwei Jesper Juul Zitaten antworten:
- Machen Sie Fehler, stehen Sie dazu uns sagen Sie Ihrem Kind, dass es Ihnen leid tut
- Ihre Erholung ist enorm wichtig für alle Familienmitglieder